Projekthistorie Kunstseidenes Mädchen (Golden Twenties)

Doris, das kunstseidene Mädchen, in Wiesdorf

Projekthistorie: Eine frische, lebendige Projekthistorie aus verstaubten Dokumenten…

Zur Schauspielerei vor dem Erholungshaus und zum zerütteten Familienleben vor dem Vater-Kind-Brunnen

Dieses Projekt fing während des Corona-Lockdowns mit einer Aufräumaktion im Keller an. Dort tauchten ziemlich verstaubte handschriftliche Oral History-Notizen für meine Diplomarbeit auf, die unberührt viele Umzügen überstanden. Beruflich war ich zu stark angespannt. Damals war ich eine studentische Hilfskraft eines Projekts zu Arbeitern und Angestellten am Vorabend des 3. Reichs am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hatten vor der nationalsozialistischen Machtergreifung eine empirische Studie erstellt. Die Ergebnisse wurden in dem Buch „Der Autoritäre Charakter“ zusammengefasst. Nach der Machtergreifung emigrierten die Wissenschaftler in die USA.

Die Forschungsarchivalien schlummerten unbesehen im Keller des Instituts, bis man sie ebenfalls bei einer Aufräumaktion fand, und das oben genannte Projekt Ende der 70er Jahre startete. Wir führten als Studenten Oral History Interviews durch. Ich spezialisierte mich auf Frauen im Büro und fing die Gespräche mit meinem Großvater an, der aus Köln kam, und in Frankfurt als Kulturjournalist arbeitete. Im ersten Gespräch überreichte er mir das Kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun, eine Schriftstellerin, die im gleichen Viertel wie er aufgewachsen ist und die wie er ebenfalls für den WDR schrieb. Sie hielten stets lose Kontakt. „In diesem Buch steht sehr viel aus der Bürowelt der IG Farben, lies es um Dich in die Lebenslage der jungen Frauen im Büro hineinzuversetzen.

Stadtspaziergang mit Doris am Kaiserplatz mit Szenen zu den Liebschaften

Tuchholsky zum Konsum in den Luminaden und Doris am evangelischen Gemeindehaus und vor der Christuskirche

Irmgard Keun arbeitete damals bei der Bayer AG als Sekretärin und kam so manches mal auch nach Frankfurt, Standort der IG Farben.“ 2 Monate nach den intensiven Gesprächen zur Geschichte der Angestellten starb mein Opa mit 86 Jahren, mein wichtigster Gesprächspartner und Zeitzeuge. Er hatte die Golden Twenties erst in Köln und später in Frankfurt erlebt, kannte die wichtigsten Autoren (z. B. Siegfried Krakauer) und Journalisten aus der Weimarer Republik. Und er kannte die Stadt Wiesdorf bzw. später Leverkusen, da er dort öfters mit seinen Kumpels in einer Band Jazz Musik aufspielte. Sein Kölner Vater gehörte zu den örtlichen Honoratioren der Stadt und wünschte nicht, dass sein Sohn dort „Negermusik“, so nannte man damals abfällig und diskriminierend den Jazz, spiele.“ Abhilfe schaffte die Straßenbahnlinie „O“  die die junge Band über die Stadtgrenze nach Wiesdorf brachte.

Ich las meine Mitschriften mit Interesse durch.  Angestrichen und verwertet wurde damals alles was sich auf Frankfurt bezog. Leverkusen interessierte mich nicht.  Wie konnte ich ahnen, dass ich 35 Jahre später in diese Stadt ziehe. Nun las ich die vernachlässigten Zeilen mit Interesse besonders spannend fand ich die Ausführungen zu Irmgard Keun bei der Bayer AG und die Anfänge der Jazz Musik und Musikschule und des Theaters im Erholungshaus in unserer Stadt.

Es reifte die Idee eines authentischen Theaterspaziergangs, da sehr viele zeitgeschichtliche Gebäude und Objekte heute noch in der Stadt stehen, die im Roman behandelte Themen symbolisieren. Das Erholungshaus, das Kasino, die Kolonien, das Evangelische Gemeindehaus und die Herz-Jesu Kirche, der Feierabendbrunnen und der Vater-Kind Brunnen. Sehr schnell wuchs mit Petra Clemens vom jungen Theater die Idee den Stadtspaziergang zu gestalten und mit Themen der Stadtgeschichte zu kommentieren. Mit diesen Szenen sollte eine visuelle Stadtführung durch Wiesdorf belebt werden.

Im März 2023 war die Erprobung und Premiere bei Regen. Mein Kompliment geht an die jungen SchauspielerInnen die bei Regen und Kälte leicht bekleidet im 20er Jahre Glitzer Look die Aufzeichnungen von Doris, dem kunstseidenen Mädchen authentisch und lebendig darboten. Im Jungen Theater werden angehende Schauspielerinnen für die Aufnahmeprüfungen des Studiums vorbereitet. Die jungen Frauen sind also genau in dem Alter von Doris. Das macht die Darbietung so lebendig und anschaulich. Ich danke dem Team vom Jungen Theater für diese schöne unsere Stadt bereichernde Performance.

Cafehausszene zu den Angestellten vor der Sparkasse und die Szene des Mantelklau vor der Musikschule

Der historische Kontext

Mitte der zwanziger Jahre wurde von der Bayer AG die Kunstseide und Ende der zwanziger Jahre der Perlonstrumpf erfunden. Beide innovativen Bekleidungsprodukte aus Leverkusen prägten das Erscheinungsbild der neuen Frau in den 20er Jahren, deren Bruttotyp die Stenotypistin war und ist.

So auch Doris, die Protagonistin des „Kunstseidenen Mädchen“ im gleichnamigen Roman, den die Debütschriftstellerin Irmgard Keun während ihrer Beschäftigung als Stenotypistin bei der Bayer AG 1930 schrieb. Ist der Stoff aus der Leverkusener Realität entnommen, oder hat sie im benachbarten Köln recherchiert? Wir wissen es nicht, aber sie hat ein brillantes soziologisches Porträtieren des neuen Frauentypus Mitte der zwanziger Jahre geliefert: Sozialer Aufstieg in den unteren prekären Mittelstand und sexuelle Freizügigkeit und Ausbeutung. Dabei beschreibt Keun feinsinnig die für die Zeit wohl typische Kombination des frechen aktiven Betreibens „Neues zu erreichen“ und durch harte Grenzen des Geldes im prekären Leben getrieben zu werden.

Die Stenotypistin ist auch eine für das Leverkusen der zwanziger Jahre sehr typische Erscheinung: Sie trug die neue Mode, die von Bayer produziert wurde, den Perlonstrumpf mit Naht, den knieumspielten Rock in Kombination mit einem Kunstseidenblüschen, farbige Pumps, deren Leder im innovativen Bayerlederlabor eingefärbt wurde und mit passender Gummisohle, die in der neuen Leverkusener Kautschukproduktion herstellt wurde. In der Freizeit wurden dann Sporthosen und Bademoden im neu angelegten Lunapark (Heute Stadtpark und Sportzentrum) an der Dhünn ausgeführt, deren Gummis gleichfalls bei Bayer hergestellt wurden.

Auch an der Mode hatten Produkte, hergestellt in Leverkusen, einen großen Anteil. Da die modische Frau in den zwanziger Jahren mehr Haut zeigte, cremte sie sich mit der von Bayer neu erfundenen Delial Sonnencreme ein und nahm bei einer Migräne gerne eine Aspirin Tablette um den Büroalltag zu bewältigen.

Zugleich gab es in Leverkusen, d h. für die Provinz außergewöhnlich früh einen Stenografen Verein in dem die Tipperinnen unterwiesen wurden. Die Unternehmer- und Berufsverbände aus Leverkusen wirkten aktiv am ersten reichsdeutschen Berufsbild für Frauen, der „Bürogehilfin“, nach dem über 70 Jahre ausgebildet wurde mit. Sowohl bei den IG Farben als auch in den Verwaltungen wurde das „Bürofräulein“ zum Bruttotyp der neuen Frau der Golden Twenties.

Der Beruf der Tipperin galt damals als eine Interimslösung bis zur Eheschließung. Für junge Familien baute man in Wiesdorf zahlreiche neu errichtete Siedlungshäuser. Die Kolonien sind heute das größte Flächendenkmal in NRW und eines der authentischsten Zeitdokumente aus der Weimarer Republik, die es in Deutschland noch gibt. Vergleichbare Siedlungen in Höchst oder Ludwigshafen wurden abgerissen. Daher ist das Vorhaben ein wichtiger Baustein die Einmaligkeit der Stadtentwicklung vor 100 Jahren anschaulich zu dokumentieren und zu würdigen.

Der rote Faden ist Irmgard Keuns Roman des „Kunstseidenen Mädchens“ vor authentischer Kulisse in Wiesdorf.

Nachhaltigkeit

Wir haben die Veranstaltung fotografisch und filmisch dokumentiert, denn der Roman ist Literatur an den Oberstufen unserer Schulen. Zugleich erinnern die Szenen viele an ihre eigenen Erlebnisse im Büro. „Ja, so war es damals, toll dass das für unsere Stadt dokumentiert ist“ war der häufigste Kommentar der rund 60 Premierenbesucher.

Das hat zur Überlegung geführt, die Veranstaltung zu wiederholen. Wir wünschen viel Spaß beim Besuch der Führung oder beim Anschauen der Mitschnitte.

Mitwirkende am Theaterspaziergang

Es spielen
Hannah Braun
Sofia Friedmann
Line Hünken
Anna Koch
Oliver Krezdorn
Hanna Nagy
Bente Obrikat
Maxi Remy
Caroline Szivac
Benjamin Trezciak

Maske und Frisuren
Yavanna Pütz

Einrichtung und Regie
Petra Clemens

Führung und Dramaturgie
Dr. Ellen Lorentz

Filmaufnahmen
Linda Schefferski

Wir danken für die finanzielle Unterstützung durch die Kulturstadt Leverkusen, die das Projekt ermöglicht hat.